Freitag, 24. April 2015

Dahinter.

Ich laufe. Seit Stunden schon. Immer und immer weiter hinauf. Meine Beine schreien nach Erlösung. Jeder Stein unter meinen Füßen fühlt sich an wie ein Messer, das sich in meine Fußsohlen bohrt. Meine Kleider hängen mir durchnässt vom Leib. 'Ich kann nicht mehr!', sagt mein Körper.
'Weiter!', sagt meine Neugier.


Wozu? Warum? Wer hat mir diese Reise aufgebürdet? War es wirklich nur ein Teil meines Verstandes, ein kleiner Anstoß, ein kurzer Gedanke? Ich erinnere mich nicht, und doch kann ich nur an eines denken: Was liegt hinter dem Berghang? Was werde ich sehen, wenn ich endlich die Kante erreicht habe, wenn sich endlich die Welt vor mir weit weg – und nicht, wie jetzt, direkt vor meinem Gesicht – ausbreitet?
Ich weiß, dass ich es nicht weiß. Ich habe keine Ahnung, was mich hinter dem Hügel erwartet. Das einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist das:

Ich laufe. Klettere. Kraxele. Taumele. Wie weit kann es denn noch sein? Schweißgebadet hebe ich meinen Blick, um den Hang noch einmal in Augenschein zu nehmen. Meine Augen müssen schon lange von roten Adern durchzogen sein. Ich kann den Hang nicht sehen. Die Kante, die mein Lebensziel geworden ist, wird von einer Wolke verdeckt. Schon bald hat mich das graue Etwas eingeholt. Es ist kalt, trübe, und nass. Aber andererseits kühlt es auch meine schmerzenden Glieder. Je verschwommener meine Sicht wird, desto klarer wird mein Kopf.
Wozu? Warum? Wieso mache ich das überhaupt? Wer sagt, dass das Ziel überhaupt lohnenswert sein wird? Ich habe niemanden zu Rate gezogen, niemandem erzählt, wo ich hingehe. Nur weiter. Nur hoch. Über den Hang. Wird es mich enttäuschen? Sollte ich nicht besser umkehren?
Nein! Das wäre eine Verschwendung von Zeit gewesen. Das kann ich nicht zulassen! Ich muss mein Ziel erreichen, muss es mir selber beweisen!
Ich stolpere. Urplötzlich vereinigt sich mein Gesicht mit den spitzen Steinen. Ich spüre, wie die Haut an meinen Knien und Ellenbogen aufreißt. Ein brennender Schmerz zieht sich durch meinen ganzen Körper. 'Nicht jetzt!', denke ich. 'Nicht so kurz vor dem Ziel!'
Ich will aufstehen, spanne jeden Muskel an meinem Körper an. Doch meine Füße finden keinen Halt auf den Steinen, die glitschig und durchnässt sind. Der Abhang ist steil. Ich komme ins Rutschen. Meine Hände krallen sich in den losen Kies, aus der Suche nach etwas zu festhalten.
Nein. Nein! NEIN!
Ohne Kontrolle über meinen Weg gewinne ich an Geschwindigkeit. Rolle. Pralle an einem Felsen ab. Kann fühlen, wie meine Rippen brechen. Atemnot. Immer noch bin ich blind. Ein Schock durchfährt meinen ganzen Körper, wie, als wäre ich in kaltes Wasser gefallen. Über mir schwappt eine Welle zusammen. Ich kann nicht mehr atmen. Ich bin in kaltes Wasser gefallen! Mein Herz pumpt rasend, während ich versuche, meine Arme zu bewegen. Mein Brustkorb und die gebrochenen Rippen verhindern jede Bewegung.

Plötzlich erfasst mich eine Strömung. Ich werde gezogen, unmöglich, mich zu wehren. Luft! Ein kurzer, gieriger Atemzug, dann werde ich wieder nach unten getrieben. Luft! Wieder tauche ich unter. Meine Füße stoßen auf steinigen Grund. Die Strömung wird stärker. Ein Felsen! Mit letzter Kraft klammere ich mich daran. Die Strömung reißt mich beinahe auseinander. Vor Schmerzen brüllend ziehe ich mich am Felsen hoch. Über die Oberfläche. Luft! Der Felsen ist flach. Ich drehe mich auf den Rücken. Mein Bauch scheint zu brennen. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Aufsetzen? Niemals. Und doch versuchen meine Arme, mich zu heben. Sie drücken, langsam aber sicher, meinen Oberkörper in die Vertikale. Mein Blick festigt sich.

Ich habe mich gerade an die Halbdunkelheit der Wolke gewöhnt, als plötzlich die graue Stille zerreißt. Sonnenstrahlen durchbrechen die Decke, der Himmel färbt sich tiefblau. Und auf einmal kann ich sehen. Ich sitze an der Kante eines Wasserfalls. Zu meinen Füßen stürzt sich das Wasser in den sicheren Tod. Mehr und mehr kann ich das Tal erkennen, aus dem ich kam. Es ist wunderschön. Im Licht einer hinter dem Berg verschwindenden Sonne und durch den Dunst leichter Nebelschwaden wirkt das Tal wie verzaubert. Alles leuchtet golden, die Häuser, der sich schlank
schlängelnde Fluss, die Bäume. Es glitzert.
Auf einmal fällt mir wieder der Grund meiner Reise ein. Reflexartig drehe ich den Kopf. Ich habe die Spitze des Berges erreicht. Wie kann das sein? Ich bin doch gefallen....
Doch meine Enttäuschung wächst von Sekunde zu Sekunde: Es ist nicht das Ende. Hinter dem Hang erstreckt sich ein weiterer, noch höherer Berg, hinter dem nun langsam die Sonne verschwindet. 'Wieso?!', will ich schreien, doch meine Lungen versagen. Mit einem Seufzer wende ich mich von dem gescheiterten Projekt ab.

'Manchmal,' sage ich zu mir selbst, 'scheint alles so, als wäre man gescheitert. Doch wenn man dann auf den Weg zurückblickt, sieht man auf einmal alles in einem anderen Licht.'

Verblüfft sehe ich mich um. Wo kam denn der Gedanke her? Von mir sicher nicht, denn ich bin immer noch tief enttäuscht von meinem Scheitern. Mein Blick schweift wieder in die Ferne davon. Aus dem Tal blendet mich eine Reflexion. Ich halte mir schützend eine Hand vor die Augen. Zwischen meinen Fingern hindurch kann ich den Hang erkennen, den ich mich hochgekämpft habe. Der steinerne Pfad windet sich wie ein Band um den Berg. Von hier aus wirkt er gar nicht so lang.
Naja.
Ganz hab ich diesen Der-Weg-ist-das-Ziel-Mist noch nicht verstanden.

Müdigkeit überfällt mich. Meine Augen fallen zu, doch das Bild des idyllischen Tals hat sich eingebrannt.
Mit einem letzten Seufzer schlafe ich ein.
'Hat sich doch gelohnt.', sage ich leise.