Ich
laufe. Seit Stunden schon. Immer und immer weiter hinauf. Meine Beine
schreien nach Erlösung. Jeder Stein unter meinen Füßen fühlt sich
an wie ein Messer, das sich in meine Fußsohlen bohrt. Meine Kleider
hängen mir durchnässt vom Leib. 'Ich kann nicht mehr!', sagt mein
Körper.
'Weiter!',
sagt meine Neugier.
Wozu?
Warum? Wer hat mir diese Reise aufgebürdet? War es wirklich nur ein
Teil meines Verstandes, ein kleiner Anstoß, ein kurzer Gedanke? Ich
erinnere mich nicht, und doch kann ich nur an eines denken: Was liegt
hinter dem Berghang? Was werde ich sehen, wenn ich endlich die Kante
erreicht habe, wenn sich endlich die Welt vor mir weit weg – und
nicht, wie jetzt, direkt vor meinem Gesicht – ausbreitet?
Ich
weiß, dass ich es nicht weiß. Ich habe keine Ahnung, was mich
hinter dem Hügel erwartet. Das einzige, was ich mit Sicherheit sagen
kann, ist das:
Ich
laufe. Klettere. Kraxele. Taumele. Wie weit kann es denn noch sein?
Schweißgebadet hebe ich meinen Blick, um den Hang noch einmal in
Augenschein zu nehmen. Meine Augen müssen schon lange von roten
Adern durchzogen sein. Ich kann den Hang nicht sehen. Die Kante, die
mein Lebensziel geworden ist, wird von einer Wolke verdeckt. Schon
bald hat mich das graue Etwas eingeholt. Es ist kalt, trübe, und
nass. Aber andererseits kühlt es auch meine schmerzenden Glieder. Je
verschwommener meine Sicht wird, desto klarer wird mein Kopf.
Wozu?
Warum? Wieso mache ich das überhaupt? Wer sagt, dass das Ziel
überhaupt lohnenswert sein wird? Ich habe niemanden zu Rate gezogen,
niemandem erzählt, wo ich hingehe. Nur weiter. Nur hoch. Über den
Hang. Wird es mich enttäuschen? Sollte ich nicht besser umkehren?
Nein!
Das wäre eine Verschwendung von Zeit gewesen. Das kann ich nicht
zulassen! Ich muss mein Ziel erreichen, muss es mir selber beweisen!
Ich
stolpere. Urplötzlich vereinigt sich mein Gesicht mit den spitzen
Steinen. Ich spüre, wie die Haut an meinen Knien und Ellenbogen
aufreißt. Ein brennender Schmerz zieht sich durch meinen ganzen
Körper. 'Nicht jetzt!', denke ich. 'Nicht so kurz vor dem Ziel!'
Ich
will aufstehen, spanne jeden Muskel an meinem Körper an. Doch meine
Füße finden keinen Halt auf den Steinen, die glitschig und
durchnässt sind. Der Abhang ist steil. Ich komme ins Rutschen. Meine
Hände krallen sich in den losen Kies, aus der Suche nach etwas zu
festhalten.
Nein.
Nein! NEIN!
Ohne
Kontrolle über meinen Weg gewinne ich an Geschwindigkeit. Rolle.
Pralle an einem Felsen ab. Kann fühlen, wie meine Rippen brechen.
Atemnot. Immer noch bin ich blind. Ein Schock durchfährt meinen
ganzen Körper, wie, als wäre ich in kaltes Wasser gefallen. Über
mir schwappt eine Welle zusammen. Ich kann nicht mehr atmen.
Ich bin in kaltes Wasser gefallen! Mein Herz pumpt
rasend, während ich versuche, meine Arme zu bewegen. Mein Brustkorb
und die gebrochenen Rippen verhindern jede Bewegung.
Plötzlich
erfasst mich eine Strömung. Ich werde gezogen, unmöglich, mich zu
wehren. Luft! Ein kurzer, gieriger Atemzug, dann werde ich wieder
nach unten getrieben. Luft! Wieder tauche ich unter. Meine Füße
stoßen auf steinigen Grund. Die Strömung wird stärker. Ein Felsen!
Mit letzter Kraft klammere ich mich daran. Die Strömung reißt mich
beinahe auseinander. Vor Schmerzen brüllend ziehe ich mich am Felsen
hoch. Über die Oberfläche. Luft! Der Felsen ist flach. Ich drehe
mich auf den Rücken. Mein Bauch scheint zu brennen. Alles
verschwimmt vor meinen Augen. Aufsetzen? Niemals. Und doch versuchen
meine Arme, mich zu heben. Sie drücken, langsam aber sicher, meinen
Oberkörper in die Vertikale. Mein Blick festigt sich.
Ich
habe mich gerade an die Halbdunkelheit der Wolke gewöhnt, als
plötzlich die graue Stille zerreißt. Sonnenstrahlen durchbrechen
die Decke, der Himmel färbt sich tiefblau. Und auf einmal kann ich
sehen. Ich sitze an der Kante eines Wasserfalls. Zu meinen Füßen
stürzt sich das Wasser in den sicheren Tod. Mehr und mehr kann ich
das Tal erkennen, aus dem ich kam. Es ist wunderschön. Im Licht
einer hinter dem Berg verschwindenden Sonne und durch den Dunst
leichter Nebelschwaden wirkt das Tal wie verzaubert. Alles leuchtet
golden, die Häuser, der sich schlank
schlängelnde
Fluss, die Bäume. Es glitzert.
Auf
einmal fällt mir wieder der Grund meiner Reise ein. Reflexartig
drehe ich den Kopf. Ich habe die Spitze des Berges erreicht. Wie kann
das sein? Ich bin doch gefallen....
Doch
meine Enttäuschung wächst von Sekunde zu Sekunde: Es ist nicht das
Ende. Hinter dem Hang erstreckt sich ein weiterer, noch höherer
Berg, hinter dem nun langsam die Sonne verschwindet. 'Wieso?!', will
ich schreien, doch meine Lungen versagen. Mit einem Seufzer wende ich
mich von dem gescheiterten Projekt ab.
'Manchmal,'
sage ich zu mir selbst, 'scheint alles so, als wäre man gescheitert.
Doch wenn man dann auf den Weg zurückblickt, sieht man auf einmal
alles in einem anderen Licht.'
Verblüfft
sehe ich mich um. Wo kam denn der Gedanke her? Von mir sicher nicht,
denn ich bin immer noch tief enttäuscht von meinem Scheitern. Mein
Blick schweift wieder in die Ferne davon. Aus dem Tal blendet mich
eine Reflexion. Ich halte mir schützend eine Hand vor die Augen.
Zwischen meinen Fingern hindurch kann ich den Hang erkennen, den ich
mich hochgekämpft habe. Der steinerne Pfad windet sich wie ein Band
um den Berg. Von hier aus wirkt er gar nicht so lang.
Naja.
Ganz
hab ich diesen Der-Weg-ist-das-Ziel-Mist noch nicht verstanden.
Müdigkeit
überfällt mich. Meine Augen fallen zu, doch das Bild des
idyllischen Tals hat sich eingebrannt.
Mit
einem letzten Seufzer schlafe ich ein.
'Hat
sich doch gelohnt.', sage ich leise.