Mittwoch, 17. August 2016

Ein Tag im Saal der fliegenden Bücher.

Derek, Derek!“, rief Melanie aufgeregt. Das kleine Mädchen flitzte die enge, mit Teppich bekleidete Treppe hinauf. „Flauschig“, nannte sie diese und brachte damit regelmäßig ihre Familie zum Schmunzeln. Eilig klopfte sie an die Zimmertür ihres großen Bruders.
Bevor dieser auch nur „nein“ rufen konnte, hatte sie die Tür schon aufgestoßen und hielt Derek jetzt eine zerfledderte Ausgabe des „Evening Standard“ vors Gesicht. „Das hab' ich heute gefunden.“, verkündete sie stolz.




Derek, in seiner Ruhe gestört, riss seiner Schwester mürrisch die Zeitung aus der Hand und suchte den fantastischen Fund, den sie angekündigt hatte. „Ich hab's sogar eingekreist. In Rot.“

In der unteren rechten Ecke, fast vollständig zwischen Werbung für Handytarife verborgen, stand eine kleine, kursiv gedruckte Annonce:

besuchen Sie
die weltberühmte Ausstellung
Saal der fliegenden Bücher
noch einen Tag im Tate
an der Londoner South Bank

Gehst du mit mir dahin? Bitte bitte!“, fragte Melanie mit großen Augen.
Derek rümpfte die Nase. „Was soll denn das sein? Klingt öde. Verzieh dich, ich muss lernen!“
Und damit warf er sie raus. Die Zeitung flog hinterher und landete auf ihrem Kopf. „Du bist so gemein!“, schrie sie die Tür an, die mit einem Knall zugefallen war. Ihr Bruder konnte ein richtiger Idiot sein. Die Kleine verschränkte die Arme vor der Brust und zwang sich, nicht in Tränen auszubrechen. Mutter und Vater waren in London unterwegs und sie, mit acht Jahren die Jüngste der Familie, durfte nicht ohne Begleitung in die Stadt fahren. Von Lewisham, der nächsten Haltestelle, brauchte man ungefähr 20 Minuten nach London Bridge. Von da konnte sie eigentlich schon laufen, oder mit der Northern Line nach Southwark fahren. Trotzdem hielten es ihre Eltern für zu gefährlich, alleine durch Central London zu laufen. Mr. Und Mrs. Wilmshurst waren in diesem Punkt sehr streng. Aber, und das war jetzt das Wichtigste: Sie waren gerade nicht da!

Nachdem Melanie die wichtige Anzeige wiedergefunden und die Zeitung, die ihre Finger mittlerweile mit billigem Toner blau verfärbt hatte, zerknüllt und vor Dereks Tür gelegt hatte, machte sie sich auf die Suche nach einer Oyster Card. Mit der blauen Checkkarte konnte sie schnell an ihr Ziel gelangen, ohne vorher am Automaten eine Fahrkarte ziehen zu müssen.
Glücklicherweise wurde sie schnell auf dem Schlüsselbrett fündig.

Eilig packte Melanie ihren Rucksack. Es war kurz nach neun. Der Tate würde um zehn öffnen und sie wollte möglichst viel von der Ausstellung sehen.
In ihre dunkle Harry-Potter-Tasche wanderte eine Wasserflasche, Kekse, der Haustürschlüssel und „The Horse and its Boy“, ihr Lieblingsbuch. „Wer weiß? vielleicht kann ich es auch zum Fliegen bringen.“, überlegte sie leise.

Das abgegriffene, braune Buch der Narnia-Reihe gehörte zu ihren wertvollsten Besitztümern. Es war das Erste, das sie je gelesen hatte.
Seit ihrem sechsten Geburtstag verschlang Melanie alles Geschriebene, das sie in die Hände bekam. Sie liebte Bücher, so sehr, dass ihr Bruder manchmal scherzhaft behauptete, sie „sei im falschen Jahrhundert geboren worden“. Das blonde Mädchen schüttelte dann ihren Kopf, sodass ihre Zöpfe hin- und herschwankten. „Vielleicht leben in diesem Jahrhundert einfach die falschen Menschen!“, gab sie dann frech zurück und streckte ihm die Zunge raus. Und selten hatte Derek dafür ein Comeback parat.

Melanie überprüfte noch einmal, ob sie alles dabei hatte und stahl sich dann leise aus der Tür. Der Tag hatte grau und eintönig begonnen, doch als sie in der Bahn saß, brach die Wolkendecke mit einem Mal auf. Das Mädchen lehnte sich im Sitz zurück und starrte aufgeregt aus dem Fenster. Das gleichmäßige Rattern des Zuges und die typisch englische Stille im Waggon machte sie ein wenig schläfrig...
Aber einschlafen konnte sie jetzt nicht! Sie hatte ihr Ziel klar vor Augen. Der Saal der fliegenden Bücher wartete auf sie. Und heute war der letzte Tag, an dem sie ihn besuchen konnte. „Next Stop: London Bridge.“, tönte die weibliche Ansagerstimme aus den Lautsprechern. „Please Mind the Gap between the train and the platform.“
Es war Samstag und nicht wirklich viel los. Unter der Woche war der Zug stets mit Pendlern vollgestopft, doch heute waren nur wenige Leute unterwegs. Melanie stieg aus und schloss sich dem kleinen Strom an, der an den blauen Flügeltüren stoppte. Nach kurzem Piepen des Kartenlesers bewegte sich der Strom weiter. Kurz blieb Melanie vor dem „Shard“ stehen, dem Wolkenkratzer, der sich tatsächlich wie eine übergroße Scherbe in den Himmel bohrte.
Die Glasoberfläche glitzerte im Licht der Vormittagssonne, als würde das riesige Gebäude ihr zuzwinkern.
Melanie riss sich vom Anblick los und begann ihren Weg durch die engen Gassen, die zur South Bank führten. Hier waren die Wege auf einmal überfüllt mit Touristen, lauten, unhöflichen, mit Kameras ausgerüsteten Menschen, die viel Geld bezahlten, um einen Ort zu sehen, den täglich tausende Menschen sahen und Fotos von Sehenswürdigkeiten zu schießen, die es schon aus jedem Blickwinkel und jeder Tageszeit mindestens eine Million Mal gab. Melanie konnte mit Touristen nichts anfangen. Sie waren Fremdkörper in einem sonst sehr ruhigen Ökosystem, mit wenig Sinn für örtliche Etikette. Und so quetschte sie sich durch die träge Masse der Besucher, vorbei an Shakespeares Globe und der Millenium Bridge, die sie jedes Mal aufs Neue an Harry Potter erinnerte.

Und schon stand sie vor dem Tate Modern, dem Museum, das früher ein Elektrizitätswerk gewesen war. Dementsprechend imposant ragte es in die Höhe, mit dem gigantischen Turm genau in seiner Mitte. Melanie hielt sich nicht lange auf, kämpfte sich weiter durch die Touristenmassen und gelangte schließlich in den zweiten Stock, wo sich die Ausstellung befinden sollte. Das weiß der Wände wurde immer wieder unterbrochen von Projektionen und Infotafeln, aber keine Spur vom Saal der fliegenden Bücher.

Melanie wanderte den Korridor ein paar mal suchend auf und ab, konnte aber nirgendwo einen Hinweis auf die Ausstellung finden.
Gerade wollte sie resigniert aufgeben, als ihr plötzlich ein kleiner Seitengang auffiel. Komisch. Den musste sie wohl zuvor übersehen haben. Gespannt schlüpfte sie in den schmalen Gang, an dessen Ende eine große, mit Schnitzereien verzierte Tür stand. Rechts davor saß auf einem kleinen Hocker ein Mann. Als Melanie vorsichtig näher kam, merkte sie, dass er leise schnarchte. Melanie räusperte sich. „Hallo?“, fragte sie laut. Der Mann schreckte aus seinem Schlaf hoch und schaute sie verwundert an. „Hallo junge Dame. Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte er verschlafen, aber freundlich. Er hatte ein Doppelkinn, seinen Kopf zierte eine Halbglatze und er trug eine Brille mit kreisrunden Gläsern. Er kam ihr bekannt vor, sehr sogar. Verwundert sah sie ihn an. „Ist das hier der Eingang zum Saal der fliegenden Bücher?“, fragte sie. Der Mann lachte freundlich. „Ach so. Ich dachte nicht, dass die tatsächlich noch jemand sehen will. Weißt du, diese Ausstellung gibt es schon seit 16 Jahren, seit das Museum eröffnet wurde. In der ganzen Zeit hat kaum ein Mensch je den Weg hierher gefunden. Deshalb habe ich beschlossen, sie für einen letzten Tag zu besuchen...“
Ich muss ehrlich gestehen, ich habe bis heute noch nie davon gehört.“, sagte das Mädchen. „Ich bin übrigens Melanie. Und du?“
Der freundliche Mann nahm ihre ausgestreckte Hand und schüttelte sie. „Clive. Ich bin zwar eigentlich auch nur Besucher, aber ich kenne die Ausstellung schon lange. Komm herein, ich führe dich herum.“
Mit diesen Worten öffnete er die Tür und bedeutete Melanie, einzutreten. „Diese Ausstellung dient seit jeher einem Zweck: Den Wert der Literatur zu feiern. Ich habe das Gefühl, dass Geschriebenes heutzutage immer mehr an Bedeutung verliert. Das ist absolut grässlich, findest du nicht?“, meinte Clive. „Absolut!“, pflichtete ihm Melanie bei.

Der Raum war in Dunkelheit gehüllt, bis der Künstler einen Schalter umlegte und das kleine Mädchen sprachlos zurückließ. Im sorgfältig arrangierten Licht sah man zahllose Bücher, die sich schwerelos im Raum zu bewegen schienen. Sie bewegten sich auf und ab und schienen hin und wieder in der pechschwarzen Decke zu verschwinden, die wie ein schwarzes Loch über dem Saal hing. Die Wände waren mit griechischen Säulen verziert. Es war wunderbar. „Können in diesem Raum alle Bücher fliegen?“, fragte Melanie aufgeregt. Clive hob eine Augenbraue. „Wie meinst du das?“, fragte er zurück. Wie aufs Stichwort kramte das Mädchen jetzt ihr Lieblingsbuch hervor und reichte es Clive. Der lächelte. „Ein wundervolles Buch.“, verkündete er.
Du hast es gelesen?“
Fast. Ich habe es geschrieben.“

Wie bitte?

Aber... aber...dann bist du ja C.S. Lewis. Das geht doch gar nicht.“, stammelte sie.
Der alte Mann sah ihr über den Rand seiner Brille in die Augen. Dann sagte er: „Stimmt. Eigentlich ist das völlig unmöglich. Und trotzdem stehe ich hier. Melanie, ich bin aus einem ganz besonderen Grund hier. Ich habe diesen einen Tag nicht umsonst ausgewählt. Es ist der eine Tag, den ich noch einmal auf dieser Erde verbringen kann, um jemandem von der Magie der Worte zu erzählen. Das ist der eigentliche Zauber dieses Saals.
Es ist eine völlig abstrakte, ganz und gar magische Ausstellung, die allein durch Vorstellungskraft und Worte zusammengehalten wird.“
Ich verstehe das nicht.“, meinte Melanie verwirrt.
Dann will ich es dir ganz einfach erklären. Hast du schon einmal von einer Giraffenschildkröte gehört?“, fragte Clive. „Nein. Wieso?“, fragte Melanie zurück. „Ich auch nicht. Und trotzdem weißt du ganz genau, wie sie aussehen würde, oder?“
Und wirklich. Als Clive das Wort gesagt hatte, war in ihrem Kopf sofort das Bild eines Schildkrötenpanzers entstanden, aus dem ein langer, gelb-braun-gefleckter Hals guckte. Sie kicherte. „Siehst du? Mit Worten kann man alles erschaffen. Und jetzt lassen wir dein Buch fliegen, ja?“, lächelte der Autor. Melanie klatschte entzückt in die Hände, als er das Buch öffnete, sodass die beiden Hälften wie zwei Flügel aussahen, und es schließlich in der Luft losließ. Sofort fing es an, zu flattern und gesellte sich zu seinen Geschwistern, die überall im Saal ausgelassen herumflogen.

Der Tag ging viel zu schnell vorbei. Melanie und ihr Lieblingsautor setzten sich auf eine Marmorbank und sahen den Büchern beim Spielen zu. Dabei erzählte Melanie ihm von all den Büchern, die sie verschlungen hatte und Clive gab ein paar Vorschläge zum besten, was sie noch lesen könne.

Der Abend nahte und Melanie wurde zunehmend schläfriger. „Clive?“, fragte sie gähnend. „Was ist denn, Fräulein Sonnenschein?“, gab dieser lächelnd zurück. „Kann ich durch Worte auch meinen Bruder dazu bringen, nicht immer so gemein zu sein?“, wollte sie nun wissen.

Clive sah eine Weile nachdenklich in die Ferne.
Dann sagte er schließlich: „Auch wenn es dir manchmal nicht so vorkommt: Für deinen Bruder bist du das Wichtigste, was es auf der Welt gibt. Du hättest sehen sollen, wie er als kleiner Junge geweint hat, als er dich zum ersten Mal im Arm hielt. Er hat dir deinen Namen gegeben, weißt du? Und eigentlich kann er überhaupt nicht böse auf dich sein. Im Moment scheint er ein bisschen gestresst, vor allem wegen der Schule...“
Woher weißt du das?“, fragte Melanie erstaunt. C.S. Lewis lächelte geheimnisvoll. „Gib ihm ein bisschen Zeit. Und vergiss nie, welche Macht in Worten steckt.“
Melanie blinzelte ein paar Mal und streckte sich auf der Bank zum Schlafen aus. Sie gähnte noch einmal herzhaft und schlief dann ein. Clive nahm seine Brille ab und steckte sie in seine Hemdtasche. Dann deckte er das Mädchen mit seinem Jackett zu und verschwand leise.


Melly? Melly!“
Melanie öffnete verwirrt die Augen. Sie lag auf einer Bank im Hauptflur des Tate. Neben ihr stand Derek, außer Atem und aufgeregt. „Melly! Mein Gott, habe ich mir Sorgen gemacht!“, rief er und drückte die kleine Schwester an sich. „Manmanman, mach das nie wieder, ja? Ich fahre dich auch überall hin, wo du willst. Mama und Papa sind schon ganz außer sich...“
Melanie kuschelte sich müde an die Schulter ihres Bruders und murmelte zufrieden. „Was sagst du? Lass uns nach Hause gehen, Melly...“, meinte ihr Bruder leise. Das Mädchen hob noch einmal den Kopf und flüsterte ihm ins Ohr: „Weißt du, was eine Giraffenschildkröte ist?“
Nein. Hab ich noch nie gehört.“, antwortete Derek und grinste aufgrund des komischen Bildes.

Aber du siehst sie, oder?“