„Derek,
Derek!“, rief Melanie aufgeregt. Das kleine Mädchen flitzte die
enge, mit Teppich bekleidete Treppe hinauf. „Flauschig“, nannte
sie diese und brachte damit regelmäßig ihre Familie zum Schmunzeln.
Eilig klopfte sie an die Zimmertür ihres großen Bruders.
Bevor
dieser auch nur „nein“ rufen konnte, hatte sie die Tür schon
aufgestoßen und hielt Derek jetzt eine zerfledderte Ausgabe des
„Evening Standard“ vors Gesicht. „Das hab' ich heute
gefunden.“, verkündete sie stolz.
Derek,
in seiner Ruhe gestört, riss seiner Schwester mürrisch die Zeitung
aus der Hand und suchte den fantastischen Fund, den sie angekündigt
hatte. „Ich hab's sogar eingekreist. In Rot.“
In
der unteren rechten Ecke, fast vollständig zwischen Werbung für
Handytarife verborgen, stand eine kleine, kursiv gedruckte Annonce:
besuchen
Sie
die
weltberühmte Ausstellung
Saal
der fliegenden Bücher
noch
einen Tag im Tate
an
der Londoner South Bank
„Gehst
du mit mir dahin? Bitte bitte!“, fragte Melanie mit großen Augen.
Derek
rümpfte die Nase. „Was soll denn das sein? Klingt öde. Verzieh
dich, ich muss lernen!“
Und
damit warf er sie raus. Die Zeitung flog hinterher und landete auf
ihrem Kopf. „Du bist so gemein!“, schrie sie die Tür an, die mit
einem Knall zugefallen war. Ihr Bruder konnte ein richtiger Idiot
sein. Die Kleine verschränkte die Arme vor der Brust und zwang sich,
nicht in Tränen auszubrechen. Mutter und Vater waren in London
unterwegs und sie, mit acht Jahren die Jüngste der Familie, durfte
nicht ohne Begleitung in die Stadt fahren. Von Lewisham, der nächsten
Haltestelle, brauchte man ungefähr 20 Minuten nach London Bridge.
Von da konnte sie eigentlich schon laufen, oder mit der Northern Line
nach Southwark fahren. Trotzdem hielten es ihre Eltern für zu
gefährlich, alleine durch Central London zu laufen. Mr. Und Mrs.
Wilmshurst waren in diesem Punkt sehr streng. Aber, und das war jetzt
das Wichtigste: Sie waren gerade nicht da!
Nachdem
Melanie die wichtige Anzeige wiedergefunden und die Zeitung, die ihre
Finger mittlerweile mit billigem Toner blau verfärbt hatte,
zerknüllt und vor Dereks Tür gelegt hatte, machte sie sich auf die
Suche nach einer Oyster Card. Mit der blauen Checkkarte konnte sie
schnell an ihr Ziel gelangen, ohne vorher am Automaten eine Fahrkarte
ziehen zu müssen.
Glücklicherweise
wurde sie schnell auf dem Schlüsselbrett fündig.
Eilig
packte Melanie ihren Rucksack. Es war kurz nach neun. Der Tate würde
um zehn öffnen und sie wollte möglichst viel von der Ausstellung
sehen.
In
ihre dunkle Harry-Potter-Tasche wanderte eine Wasserflasche, Kekse,
der Haustürschlüssel und „The Horse and its Boy“, ihr
Lieblingsbuch. „Wer weiß? vielleicht kann ich es auch zum Fliegen
bringen.“, überlegte sie leise.
Das
abgegriffene, braune Buch der Narnia-Reihe gehörte zu ihren
wertvollsten Besitztümern. Es war das Erste, das sie je gelesen
hatte.
Seit
ihrem sechsten Geburtstag verschlang Melanie alles Geschriebene, das
sie in die Hände bekam. Sie liebte Bücher, so sehr, dass ihr Bruder
manchmal scherzhaft behauptete, sie „sei im falschen Jahrhundert
geboren worden“. Das blonde Mädchen schüttelte dann ihren Kopf,
sodass ihre Zöpfe hin- und herschwankten. „Vielleicht leben in
diesem Jahrhundert einfach die falschen Menschen!“, gab sie dann
frech zurück und streckte ihm die Zunge raus. Und selten hatte Derek
dafür ein Comeback parat.
Melanie
überprüfte noch einmal, ob sie alles dabei hatte und stahl sich
dann leise aus der Tür. Der Tag hatte grau und eintönig begonnen,
doch als sie in der Bahn saß, brach die Wolkendecke mit einem Mal
auf. Das Mädchen lehnte sich im Sitz zurück und starrte aufgeregt
aus dem Fenster. Das gleichmäßige Rattern des Zuges und die typisch
englische Stille im Waggon machte sie ein wenig schläfrig...
Aber
einschlafen konnte sie jetzt nicht! Sie hatte ihr Ziel klar vor
Augen. Der Saal der fliegenden Bücher wartete auf sie. Und heute war
der letzte Tag, an dem sie ihn besuchen konnte. „Next Stop: London
Bridge.“, tönte die weibliche Ansagerstimme aus den Lautsprechern.
„Please Mind the Gap between the train and the platform.“
Es
war Samstag und nicht wirklich viel los. Unter der Woche war der Zug
stets mit Pendlern vollgestopft, doch heute waren nur wenige Leute
unterwegs. Melanie stieg aus und schloss sich dem kleinen Strom an,
der an den blauen Flügeltüren stoppte. Nach kurzem Piepen des
Kartenlesers bewegte sich der Strom weiter. Kurz blieb Melanie vor
dem „Shard“ stehen, dem Wolkenkratzer, der sich tatsächlich wie
eine übergroße Scherbe in den Himmel bohrte.
Die
Glasoberfläche glitzerte im Licht der Vormittagssonne, als würde
das riesige Gebäude ihr zuzwinkern.
Melanie
riss sich vom Anblick los und begann ihren Weg durch die engen
Gassen, die zur South Bank führten. Hier waren die Wege auf einmal
überfüllt mit Touristen, lauten, unhöflichen, mit Kameras
ausgerüsteten Menschen, die viel Geld bezahlten, um einen Ort zu
sehen, den täglich tausende Menschen sahen und Fotos von
Sehenswürdigkeiten zu schießen, die es schon aus jedem Blickwinkel
und jeder Tageszeit mindestens eine Million Mal gab. Melanie konnte
mit Touristen nichts anfangen. Sie waren Fremdkörper in einem sonst
sehr ruhigen Ökosystem, mit wenig Sinn für örtliche Etikette. Und
so quetschte sie sich durch die träge Masse der Besucher, vorbei an
Shakespeares Globe und der Millenium Bridge, die sie jedes Mal aufs
Neue an Harry Potter erinnerte.
Und
schon stand sie vor dem Tate Modern, dem Museum, das früher ein
Elektrizitätswerk gewesen war. Dementsprechend imposant ragte es in
die Höhe, mit dem gigantischen Turm genau in seiner Mitte. Melanie
hielt sich nicht lange auf, kämpfte sich weiter durch die
Touristenmassen und gelangte schließlich in den zweiten Stock, wo
sich die Ausstellung befinden sollte. Das weiß der Wände wurde
immer wieder unterbrochen von Projektionen und Infotafeln, aber keine
Spur vom Saal der fliegenden Bücher.
Melanie
wanderte den Korridor ein paar mal suchend auf und ab, konnte aber
nirgendwo einen Hinweis auf die Ausstellung finden.
Gerade
wollte sie resigniert aufgeben, als ihr plötzlich ein kleiner
Seitengang auffiel. Komisch. Den musste sie wohl zuvor übersehen
haben. Gespannt schlüpfte sie in den schmalen Gang, an dessen Ende
eine große, mit Schnitzereien verzierte Tür stand. Rechts davor saß
auf einem kleinen Hocker ein Mann. Als Melanie vorsichtig näher kam,
merkte sie, dass er leise schnarchte. Melanie räusperte sich.
„Hallo?“, fragte sie laut. Der Mann schreckte aus seinem Schlaf
hoch und schaute sie verwundert an. „Hallo junge Dame. Kann ich dir
irgendwie helfen?“, fragte er verschlafen, aber freundlich. Er
hatte ein Doppelkinn, seinen Kopf zierte eine Halbglatze und er trug
eine Brille mit kreisrunden Gläsern. Er kam ihr bekannt vor, sehr
sogar. Verwundert sah sie ihn an. „Ist das hier der Eingang zum
Saal der fliegenden Bücher?“, fragte sie. Der Mann lachte
freundlich. „Ach so. Ich dachte nicht, dass die tatsächlich noch
jemand sehen will. Weißt du, diese Ausstellung gibt es schon seit 16
Jahren, seit das Museum eröffnet wurde. In der ganzen Zeit hat kaum
ein Mensch je den Weg hierher gefunden. Deshalb habe ich beschlossen,
sie für einen letzten Tag zu besuchen...“
„Ich
muss ehrlich gestehen, ich habe bis heute noch nie davon gehört.“,
sagte das Mädchen. „Ich bin übrigens Melanie. Und du?“
Der
freundliche Mann nahm ihre ausgestreckte Hand und schüttelte sie.
„Clive. Ich bin zwar eigentlich auch nur Besucher, aber ich kenne
die Ausstellung schon lange. Komm herein, ich führe dich herum.“
Mit
diesen Worten öffnete er die Tür und bedeutete Melanie,
einzutreten. „Diese Ausstellung dient seit jeher einem Zweck: Den
Wert der Literatur zu feiern. Ich habe das Gefühl, dass
Geschriebenes heutzutage immer mehr an Bedeutung verliert. Das ist
absolut grässlich, findest du nicht?“, meinte Clive. „Absolut!“,
pflichtete ihm Melanie bei.
Der
Raum war in Dunkelheit gehüllt, bis der Künstler einen Schalter
umlegte und das kleine Mädchen sprachlos zurückließ. Im sorgfältig
arrangierten Licht sah man zahllose Bücher, die sich schwerelos im
Raum zu bewegen schienen. Sie bewegten sich auf und ab und schienen
hin und wieder in der pechschwarzen Decke zu verschwinden, die wie
ein schwarzes Loch über dem Saal hing. Die Wände waren mit
griechischen Säulen verziert. Es war wunderbar. „Können in diesem
Raum alle Bücher fliegen?“, fragte Melanie aufgeregt. Clive hob
eine Augenbraue. „Wie meinst du das?“, fragte er zurück. Wie
aufs Stichwort kramte das Mädchen jetzt ihr Lieblingsbuch hervor und
reichte es Clive. Der lächelte. „Ein wundervolles Buch.“,
verkündete er.
„Du
hast es gelesen?“
„Fast.
Ich habe es geschrieben.“
Wie
bitte?
„Aber...
aber...dann bist du ja C.S. Lewis. Das geht doch gar nicht.“,
stammelte sie.
Der
alte Mann sah ihr über den Rand seiner Brille in die Augen. Dann
sagte er: „Stimmt. Eigentlich ist das völlig unmöglich. Und
trotzdem stehe ich hier. Melanie, ich bin aus einem ganz besonderen
Grund hier. Ich habe diesen einen Tag nicht umsonst ausgewählt. Es
ist der eine Tag, den ich noch einmal auf dieser Erde verbringen
kann, um jemandem von der Magie der Worte zu erzählen. Das ist der
eigentliche Zauber dieses Saals.
Es
ist eine völlig abstrakte, ganz und gar magische Ausstellung, die
allein durch Vorstellungskraft und Worte zusammengehalten wird.“
„Ich
verstehe das nicht.“, meinte Melanie verwirrt.
„Dann
will ich es dir ganz einfach erklären. Hast du schon einmal von
einer Giraffenschildkröte gehört?“, fragte Clive. „Nein.
Wieso?“, fragte Melanie zurück. „Ich auch nicht. Und trotzdem
weißt du ganz genau, wie sie aussehen würde, oder?“
Und
wirklich. Als Clive das Wort gesagt hatte, war in ihrem Kopf sofort
das Bild eines Schildkrötenpanzers entstanden, aus dem ein langer,
gelb-braun-gefleckter Hals guckte. Sie kicherte. „Siehst du? Mit
Worten kann man alles erschaffen. Und jetzt lassen wir dein Buch
fliegen, ja?“, lächelte der Autor. Melanie klatschte entzückt in
die Hände, als er das Buch öffnete, sodass die beiden Hälften wie
zwei Flügel aussahen, und es schließlich in der Luft losließ.
Sofort fing es an, zu flattern und gesellte sich zu seinen
Geschwistern, die überall im Saal ausgelassen herumflogen.
Der
Tag ging viel zu schnell vorbei. Melanie und ihr Lieblingsautor
setzten sich auf eine Marmorbank und sahen den Büchern beim Spielen
zu. Dabei erzählte Melanie ihm von all den Büchern, die sie
verschlungen hatte und Clive gab ein paar Vorschläge zum besten, was
sie noch lesen könne.
Der
Abend nahte und Melanie wurde zunehmend schläfriger. „Clive?“,
fragte sie gähnend. „Was ist denn, Fräulein Sonnenschein?“, gab
dieser lächelnd zurück. „Kann ich durch Worte auch meinen Bruder
dazu bringen, nicht immer so gemein zu sein?“, wollte sie nun
wissen.
Clive
sah eine Weile nachdenklich in die Ferne.
Dann
sagte er schließlich: „Auch wenn es dir manchmal nicht so
vorkommt: Für deinen Bruder bist du das Wichtigste, was es auf der
Welt gibt. Du hättest sehen sollen, wie er als kleiner Junge geweint
hat, als er dich zum ersten Mal im Arm hielt. Er hat dir deinen Namen
gegeben, weißt du? Und eigentlich kann er überhaupt nicht böse auf
dich sein. Im Moment scheint er ein bisschen gestresst, vor allem
wegen der Schule...“
„Woher
weißt du das?“, fragte Melanie erstaunt. C.S. Lewis lächelte
geheimnisvoll. „Gib ihm ein bisschen Zeit. Und vergiss nie, welche
Macht in Worten steckt.“
Melanie
blinzelte ein paar Mal und streckte sich auf der Bank zum Schlafen
aus. Sie gähnte noch einmal herzhaft und schlief dann ein. Clive
nahm seine Brille ab und steckte sie in seine Hemdtasche. Dann deckte
er das Mädchen mit seinem Jackett zu und verschwand leise.
„Melly?
Melly!“
Melanie
öffnete verwirrt die Augen. Sie lag auf einer Bank im Hauptflur des
Tate. Neben ihr stand Derek, außer Atem und aufgeregt. „Melly!
Mein Gott, habe ich mir Sorgen gemacht!“, rief er und drückte die
kleine Schwester an sich. „Manmanman, mach das nie wieder, ja? Ich
fahre dich auch überall hin, wo du willst. Mama und Papa sind schon
ganz außer sich...“
Melanie
kuschelte sich müde an die Schulter ihres Bruders und murmelte
zufrieden. „Was sagst du? Lass uns nach Hause gehen, Melly...“,
meinte ihr Bruder leise. Das Mädchen hob noch einmal den Kopf und
flüsterte ihm ins Ohr: „Weißt du, was eine Giraffenschildkröte
ist?“
„Nein.
Hab ich noch nie gehört.“, antwortete Derek und grinste aufgrund
des komischen Bildes.
„Aber
du siehst sie, oder?“